Gastbeitrag von Dr. Nico Nolden

Digitale Spiele haben in der sozialen Arbeit nicht den besten Ruf. Häufig problematisiert, erhalten öffentlichkeitswirksame Produktionen großer Konzerne viel Aufmerksamkeit, die mit millionenschweren Etats nicht repräsentativ für die Gameskultur sind (Handbuch Gameskultur 2020). Digitale Spiele bieten eine große Bandbreite von Settings und Spielformen, können sehr langwierig sein oder kurzweilig, von einzelnen Menschen entwickelt oder hunderten Personen, setzen pointiert auf eine Kernidee oder ufern in Offene Welten als riesige begehbare Freizeitparks aus. Weltweit spielen sie Millionen von Menschen auf einem großen Spektrum von technischen Plattformen, online oder offline, allein oder gemeinschaftlich. Betrachtet man die breite Nutzung quer durch alle Altersgruppen und in allen sozialen Schichten über alle Kontinente verteilt, verwundert nicht, dass wie in der Gesellschaft auch verstörende Phänomene wie Rechtsextremismus oder Antisemitismus in Games Branche und Communities zu finden sind. Über die Aufgaben von Aufklärung, Jugendschutz und gesundheitlicher Prävention hinaus, bieten digitale Spiele allerdings für die Jugendarbeit weitere interessante Vorgehensweisen. Viele Spielmechaniken lassen sich als hilfreiche Methoden verwenden, um an die Arbeitsweisen der internationalen Jugendarbeit anzuschließen, sie sinnvoll auf die digitale Welt auszuweiten und in ihrer Schlagkraft und Reichweite zu verstärken. Dieser Beitrag will einen Überblick geben und einige Vorgehensweisen anregen.

Digitale Spiele besitzen grundlegende Eigenschaften, die sie methodisch als Instrument wertvoll machen. Spielenden wird durch sie bewusst, wie sich ihr eigenes Handeln in den Spielmechaniken unmittelbar auf Spielszenarien auswirkt. Spielmechanische Prozesse erlauben, Alternativen zu erproben, indem wechselnde Entscheidungen in derselben Situation unterschiedliche Ergebnisse hervorrufen. Dabei lernen Spielende Perspektiven auf das dynamische Zusammenspiel der Faktoren kennen. Digitale Spiele bereiten so ihre Nutzer:innen vor, in einer dynamischen Problemsituation komplexe veränderliche Systeme so zu erfassen, dass sie - oft unter Zeitdruck - eine möglichst plausible Option wählen können. Meist müssen sie Informationen und Spielelemente gewichten und priorisieren, die sich nicht vollständig überblicken lassen. Entscheidungen lernen sie so auch für ein unvollständiges Lagebild zu treffen. Im Zeitalter eines unablässig zu ordnenden Medien- und Nachrichtenflusses trainieren sie so wichtige Fertigkeiten, um dynamische demokratische Mediengesellschaften zu verstehen und mitzugestalten.

Die Jahre der Pandemie haben sicherlich den Wert persönlicher Begegnungen in der Jugendarbeit unterstrichen. Gerade bei internationalen Zusammentreffen ist aber nicht zu vergessen, dass Fernreisen für viele Menschen auch körperliche, finanzielle und zeitliche Aufwände bedeuten. Manche Menschen – etwa körperlich oder psychisch eingeschränkt – hält Präsenz sogar von Teilnahmen ab. Digitale Online-Events ermöglichen zeit- und ortsunabhängig Menschen zusammenzubringen, die sich ansonsten eher in Präsenz nicht begegnen. Beispielsweise könnten körperlich eingeschränkte Menschen die Distanz genießen, anderen mithilfe eines selbst gestalteten Avatars digital zu begegnen. Spiele lassen sich gemeinschaftlich in Präsenz nutzen, aber viele Online-Titel ermöglichen durch Multiplayer-Modi, hybrid oder rein digital zusammenzutreffen. Fehlt es an direkter persönlicher Begegnung, kann eine gute Moderation und Feedback-Kultur gegensteuern. Auch im Digitalen lassen sich Räume für gesellige Begegnungen schaffen. Digitale oder hybride Events sollen deshalb nicht Methoden traditioneller Jugendarbeit ersetzen, sondern ergänzen und erweitern, und so neue Kreise von Jugendlichen begeistern und mit neuen Methoden auf traditionellen Arbeitsweisen zurückwirken.

Je nach dem gewünschten Einsatzzweck bestimmt die Wahl eines geeigneten Spieles, ob sich die methodischen Ziele in der internationalen Jugendarbeit umsetzen lassen. Öffentlich im Rampenlicht stehen häufig digitale Spiele, die den Wettkampf betonen. Als kompetitive Titel prominent sind sportliche Wettkämpfe im Fussball oder squad-basierte Gefechtsshooter in Polizei- oder Militärszenarien. Im Hinblick auf Jugendarbeit kann auch eine kompetitive Methode sinnvoll sein, zum Beispiel wenn es in einem Event etwas zu gewinnen gilt. So ließe sich ein länderübergreifendes digitales Fußballevent oder Autorennen veranstalten. Das Ergebnis könnte eine Auszeichnung sein, eine Reise oder Preisgeld. Um Gemeinschaften zusammen zu bringen und im Sinne einer internationalen Jugendarbeit zu fördern, bietet eine große Zahl von digitalen Spielen besondere Möglichkeiten für Kollaboration. Spieler:innen errichten und versorgen mittelalterliche Fantasysiedlungen oder stimmen taktische Operationen zu größeren Strategien ab, etwa wenn sie zu Dutzenden in Online-Rollenspielen gemeinsam kämpfen. Dabei organisieren Spielende ihre Gemeinschaften selbst, um Ziele zu bestimmen und zu verfolgen. Sie verteilen Rollen und Aufgaben und unterstützen sich gegenseitig über die Spiele hinaus, in Foren oder auf Discord-Servern.

Die Gaming-WG des DRJA wählt Spiele für jeweils bestimmte Methoden, um unterschiedliche Aspekte der Kollaboration zu betonen. Das pixelige Unrailed fordert einander fremde Menschen heraus, sich abzustimmen, um einem Zug die Gleise durch eine Landschaft zu bauen. Overcooked führt Menschen online oder mit mehreren Controllern an einem Gerät in einer digitalen Restaurant-Küche zusammen. Dabei müssen sie Rollen finden und sich gegenseitig zuarbeiten. Damit lässt sich als Sachthema auch Ernährung und Essenskultur verbinden. Spielmechanisch ähnliche kollaborieren Spielende in Moving Out für ein cartoonig überdrehtes Umzugsunternehmen. Es bietet Anlass, sich als Teilnehmende über Wohnen und Herkunft auszutauschen. Gemeinsam eine Spielumgebung gestalten, konnten Teilnehmende auf einem Server in der Open-Source-Variante Minetest des weltweit bekannten Minecraft. Spielende errichteten in der Gaming-WG von „Play it forward“ einen gemeinsamen Treffpunkt, gestalteten begeistert Gemeinschaftsräume und eigene Rückzugsmöglichkeiten. Im Mittelpunkt stand, wie digitale Begegnungsräume aus Sicht der Teilnehmenden aussehen sollten. Damit dieses Werkzeug wirken konnte, musste auf dem Server ein Dreh- und Angelpunkt gesetzt werden. Eine vorbereitete Ruine als Blickfang fokussierte den Eifer der Teilnehmenden auf einen zentralen Ort. Zu einer Reflexionsebene führt die spielerische Metaplattform Gathertown diese gemeinsamen Erlebnisse wieder zusammen. Moderierte Reflexionsanlässe können bei den beteiligten Jugendlichen das Bewusstsein wachsen lassen, dass eben sie selbst diese Jugendarbeit aktiv gestalten. Sie können die gewählte Plattform und die Spieleauswahl nach ihren Wünschen formen. Abstrakter lässt sich mit Teilnehmenden eines Events deshalb die methodische Frage thematisieren, wie digitale Spiele Prozesse der Kollaboration organisieren und was sie davon als förderlich oder hinderlich für Jugendaustausche empfinden.

Kollaborative Spiele schaffen auf diese Weise einen Rahmen, in dem sich junge Menschen auch digital stärker aufeinander einlassen müssen, um an gemeinsamen Zielen zu arbeiten. Aufgrund der kollaborativen Dynamik können sich Spielende in einem solchen Settings der gemeinsamen Spielerfahrung nicht entziehen. Auf mehreren Ebenen helfen digitale Spiele so als methodisches Werkzeug für internationalen Jugendaustausch. Interkulturell bieten sie prozessorientiere Umgebungen an, in denen Spielende verschiedener Sprachen und Kulturkreise miteinander an konkreten Aufgaben arbeiten. Sie müssen sich im gegenseitigen Perspektivwechsel untereinander respektieren, Verhaltensregeln aushandeln und sich kulturell wie sprachlich verstehen lernen. Sie bringen jeweils unterschiedliche Fähigkeiten mit in die spielende Gruppe ein und können so ihre Talente als Beitrag zu einer Gemeinschaft erkennen. Komplexe Situationen spielerisch zu managen, schult, andere Spielende wahrzunehmen und einzubeziehen, Konflikte offenzulegen, Rollen zu finden und zu verteilen. Digitales Spielen ermöglicht so wertvolle Lektionen, sich selbst als Individuum zu finden und die eigene Leistung für eine Gruppe wertzuschätzen. Gerade im jugendlichen Alter handelt es sich um wichtige Faktoren eines Reifeprozesses, den die Jugendarbeit hier sogar international fördert.

Schließlich lassen sich auch inhaltlich kluge Akzente spezifisch für eine interkulturelle, transnationale Jugendarbeit setzen. Viele digitale Spiele verhandeln historische Szenarien, die erinnerungskulturelle Konflikte offenlegen. Sie wirken sich auch auf Weltanschauungen aus, die Entwickler:innen sowie die Spielerschaften prägen. Die Settings in digitalen Spielen erlangen so Einfluss auf aktuelle politische Bewertungen der Gegenwart (Nolden 2020). Militärshooter thematisieren prophetisch Krisenherde wie den Iran oder Taiwan und offenbaren Weltanschauungen ihrer Herkunftsländer. Selbst Sport-Spiele wie zum Fussball werfen zeitgenössische Fragen auf. Noch heute ist keine weibliche Liga auch nur optional spielbar. Ähnlich fehlt es Strategiespielen an Frauen und der Familie als treibende zivilisatorische Kraft. Kolonialismus und Imperialismus prägen unreflektiert Spielmechaniken seit dem 19. Jahrhundert bis zur digitalen Aufbaustrategie. Szenarien operieren zudem oft mit Stereotypen von Feindbildern, andere dagegen füllen kreativ die Lücken von geschichtlichen Überlieferungen.

Gezielt für bilaterale Jugendaustausche lassen sich fruchtbare Themen finden. Die Datenbank Games und Erinnerungskultur der Stiftung Digitale Spielekultur ist dafür hilfreich. Unorthodox blicken die Action-Abenteuer Valiant Hearts und jüngst der Nachfolger Valiant Hearts: Coming Home auf Familien und Freundschaften, die im Ersten Weltkrieg grenzübergreifend zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich bestanden. Manche Spiele werfen Schlaglichter auf in Deutschland wenig präsente, und doch erinnerungskulturell relevante Geschehnisse: Partisan 1941 behandelt den russischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg, My Memory of Us sogar kindgerecht, wie Polen nach dem deutschen Überfall unter der Besatzung litt. Assassin’s Creed Odyssey gibt Denkanstöße zur Tragweite der antiken griechischen Kultur für das heutige Europa in neuartiger Weise. Diese Unterschiede bei historischen Bewertungen, die in digitalen Spielen als Kulturmedium zutage treten, prägen häufig unbewusst politische Debatten der europäischen Gegenwart. Relevanz und Deutung historischer Vorgänge jeweils für sich und andere entlang europäischer Grenzen können sehr unterschiedlich ausfallen. Die Spiele lassen sich deshalb gut verwenden, um gewachsene Stereotype offenzulegen und zu durchbrechen. In dieser Erkenntnis liegt zudem eine echte Chance auf internationale Verständigung der Jugend für eine aussöhnende, aufgeklärte und demokratisch robuste Zukunft.

Dieser Beitrag zeigte, dass digitale Spiele gezielt Prinzipien und Arbeitsweisen des internationalen Jugendaustauschs unterstützen können. Allerdings müssen sie bewusst inhaltlich gewählt und methodisch klug in einen Austausch eingebettet werden. Sie ersetzen analoge Methoden nicht, aber sie ergänzen um zeitgemäße, digitale Mittel. „Play it forward“ versteht sich deshalb zwar als konsequenter, und doch auch nur als ein erstes Angebot.

<aside> 🗺️ Spielend Verbinden: Pädagogische Einblicke in den digitalen Jugendaustausch mit Gaming

Einleitung Pädagogik

Potenziale von Games - Spielend Lernen

Wie aus digitalem Gaming ein Jugendaustausch wird

Mehr Zugang durch digitales Gaming – geht das?

Interview mit Dr. Nico Nolden, Experte Games in Kinder- und Jugendarbeit

Kriterien für die Auswahl von Games

Die Rolle der Jugendleiter:in - Pädagogische Begleitung

Risikoprävention im Online-Gaming

Gemeinschaftliche Spielerfahrungen und kollaborative Spielmechaniken als wirksame Methoden der internationalen Jugendarbeit

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