Welche Möglichkeiten aus lern- und spieltheoretischer Sicht bietet Gaming und was ist das Lernpotenzial?
Weil Spielende unmittelbar durch Spielmechaniken die gespielten Settings beeinflussen, macht digitale Spiele ihnen die Wirkung ihres eigenen Handelns bewusst. Innerhalb des Rahmens, den die Spiele vorgeben, müssen Spielende immer selbst Ziele setzen, teils sehr komplexe Bedingungen bewerten und zügig Entscheidungen treffen. Dadurch wird es quasi unmöglich, nicht zu handeln. Im Vergleich zu andern Mediensorten bildet sich so ein fesselnder interaktiver Kreislauf aus Agieren und Reagieren, der digitale Spiele zu einem einzigartigen Lernwerkzeug macht.
Da Ausgangssituationen häufig wiederholbar sind, können die Spielenden Alternativen in Prozessen erproben, bei denen wechselnde Entscheidungen aus derselben Situation andere Ergebnisse hervorrufen. Dabei lernen sie unterschiedliche Perspektiven auf das dynamische Zusammenspiel von Faktoren kennen. So geraten sie zu wertvollen Reflexionsmaschinen für das eigene Handeln - nicht bloß für Heranwachsende, sondern Menschen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten.
Wie können Online-Games als effektive Lernwerkzeuge im Kontext des internationalen Jugendaustausches eingesetzt werden, um handlungsorientiertes Lernen und das Verständnis verschiedener Perspektiven zu fördern?
Außerschulische Anlässe wie beispielsweise ein internationale Jugendaustausch können methodisch gezielt die Stärken digitaler Spiele einsetzen. Wo schulisches Lernen auf bestimmte curriculare Lernziele festgelegt ist, können Jugendaustausche flexibel auf von Profis entwickelte, kommerziell erfolgreiche und damit attraktivere Spiele zurückgreifen. Sie können sich länger als ein bis zwei Schulstunden mit ihnen befassen – beispielsweise in der experimentellen Gaming-WG des DRJA, auf internationalen Jugendfestivals oder anderen mehrtägigen Events. Akteur:innen in der internationalen Jugendarbeit stellen gezielt für ein geplantes Event die zugehörigen Spiele und die jeweils passende zeitgemäße Technik zusammen. Dabei können auch Spiele gemeinschaftlich in Präsenz genutzt werden, deren anmeldepflichtige Service-Plattformen viele Schulen vor unlösbare Rechtefragen stellt. Online-Spiele ermöglichen darüber hinaus, mit direkt vorgesehenen Multiplayer-Optionen hybride oder sogar reine digitale Begegnungen zu erdenken.
Inhaltlich und methodisch können digitale Spiele hervorragend den Auftrag von Institutionen der Internationalen Jugendarbeit unterstützen. Handlungs- und gruppenorientiert führen sie Jugendliche auch digital und online bereits durch ihre Grundanlage zu kompetitiven wie kollaborativen Gemeinschaftserlebnissen zusammen. Bi-national legen zudem gut gewählte Titel unterschiedliche Interpretationen interkultureller Beziehungen auf beiden Seiten nationaler Grenzen offen, die oft auf historischen Kollektiverfahrungen fußen. Teilnehmende tauschen die Sicht auf Spielerfahrungen aus und diskutieren ihre jeweiligen erinnerungskulturellen Deutungen miteinander, die unilateral häufig selbstverständlich erscheinen und deshalb unhinterfragt bleiben. Abstrakter auf einer methodischen Ebene lässt sich mit Teilnehmenden eines Events die Frage erkunden, wie digitale Spiele Prozesse der Zusammenarbeit organisieren und welche Aspekte sie für förderlich oder hinderlich bei einem Austausch halten.
Was ist in Hinblick auf Gruppendynamik und die Beziehungsarbeit beim Gaming im internationalen Jugendaustausch zu beachten?
Im Hinblick auf Jugendarbeit können kompetitive Anlässe durchaus sinnvoll sein, etwa um ein länderübergreifendes digitales Fußball-Turnier oder Autorennen zu veranstalten. So eine Methodik böte sich an, wenn es in einem Event eine Auszeichnung, eine Reise oder Preisgeld zu gewinnen gäbe. Kollaborative Spiele dagegen schaffen einen Rahmen, in dem sich junge Menschen aufeinander einlassen müssen, um an gemeinsamen Zielen zu arbeiten. Sie müssen sich gegenseitig zuhören, sich abstimmen und dabei sich selbst wie die Haltung anderer reflektieren. Sie lernen ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten abzuschätzen, wenn gemeinsam zu entscheiden ist, wer welche Aufgaben und Rollen übernimmt. Dabei gilt es einen Modus zu finden, um die Aufgaben zu erfüllen und dabei die Haltung anderer zu respektieren. Weder die forsche Einzelgängerin, noch der passive Lethargiker können sich in einem solchen Setting lange der kollaborativen Dynamik des gemeinsamen Spielens entziehen.
Die fehlende direkte persönliche Begegnung kann dabei eine Schwierigkeit darstellen, mit der nicht alle – auch nicht alle jungen – Menschen leicht umgehen. Auch im Digitalen ist eine gute Rahmung durch Moderation und Feedback sowie gesellige Begegnungen hilfreich. Digitale Online-Events ermöglichen allerdings auch, zeit- und ortsunabhängig Menschen zusammenzubringen, die sich in Präsenz eher nicht begegnen. Möglicherweise sind sie körperlich eingeschränkt und genießen die Distanz über einen selbst gestaltbaren Avatar als Kostüm. Andere stammen aus repressiven Ländern, und haben es nicht leicht, überhaupt international auf Jugendliche und ihre Einstellungen zu treffen.
Digitale Spiele ersetzen außerdem nicht die Jugendarbeit, denn die spielerische gemeinsame Erfahrung ist nicht selbstmoderierend. Die Gaming-WG des DRJA setzt etwa auf unterschiedliche Spiele in jeweils anderer Funktion, die unterschiedliche Aspekte der Kollaboration betonen. Als Reflexionsebene führt eine spielerische Metaplattform wie Gathertown diese gemeinsamen Erlebnisse wieder zusammen. Moderierte Reflexionsanlässe fördern bei den beteiligten Jugendlichen das Bewusstsein, dass sie selbst diese Jugendarbeit aktiv mitgestalten: eben SIE können die gewählte Plattform und die Spieleauswahl weiter nach ihren Wünschen formen. Wer sich auf digitale Spiele für die Jugendarbeit einlässt, muss die Chancen darin erkennen, mit ihrer prozesshaften Grundanlage ein Setting zu erzeugen, das im Grunde nie „fertig“ ist, sondern immer weiter gestaltet wird.
Auf welche Weise tragen digitale Spiele dazu bei, interkulturelle Kompetenzen und Perspektivenvielfalt innerhalb eines internationalen Jugendaustauschprogramms zu vermitteln und zu vertiefen?
Entscheidend für diese Ziele ist die Auswahl der geeigneten Spiele, deren Spektrum enorm ist. Spiele verhandeln konkret in Szenarien - manchmal auch nur andeutend und subtil - erinnerungskulturelle Konflikte innerhalb von Europa und auf der ganzen Welt. Tradierte Haltungen etwa im deutsch-französischen oder deutsch-polnischen Verhältnis wirken sich auch auf Vorstellungen über Weltanschauungen aus. Sie prägen Entwicklerinnen und Entwickler ebenso wie ihre Gemeinschaften der Spielenden. Dargestellte kriegerische Konflikte, gesellschaftliche Fragen wie Armut und digitale Überwachung oder historische Settings in digitalen Spielen beeinflussen so durchaus aktuelle politische Bewertungen der Gegenwart.
Nutzen lassen sich zudem Beispiele für besondere Spielmechaniken, die zu jeweils unterschiedlichen Zwecken für die Zusammenarbeit im internationalen Jugendaustausch hilfreich sind. Interkulturell bieten sie prozessorientiere Umgebungen an, in denen Spielende verschiedener Sprachen und Kulturkreise miteinander an konkreten Aufgaben arbeiten. Sie müssen sich dabei im gegenseitigen Perspektivwechsel untereinander respektieren, Verhaltensregeln aushandeln und sich kulturell wie sprachlich verstehen lernen. Sie bringen jeweils unterschiedliche Fähigkeiten mit in die spielende Gruppe ein und können so ihre Talente als Beitrag zu einer Gemeinschaft erkennen. Komplexe Situationen zu managen, schult, andere Spielende wahrzunehmen und einzubeziehen, Konflikte offenzulegen, Rollen zu finden und zu verteilen. Digitales Spielen ermöglicht so wertvolle Lektionen, sich selbst als Individuum zu finden, den eigenen Beitrag zu einer Gruppenleistung zu erkennen und den anderer als Bereicherung wertzuschätzen. Gerade im jugendlichen Alter handelt es sich um wichtige Faktoren eines Reifeprozesses, den digitale Spiele auf eine besondere Weise unterstützen können – insbesondere bei der Begegnung mit Heranwachsenden aus anderen Ländern.
Dr. Nico Nolden arbeitet als Historiker für Public History zu Geschichte und Erinnerungskultur bei interaktiven digitalen Medienformen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt für ihn auf digitalen Spielen. Seine Dissertation von 2020 bei de Gruyter untersuchte „Geschichte und Erinnerung in digitalen Spielen“ als „Erinnerungskulturelle Wissenssysteme“. Selbstständig ist er als Berater, mit Workshops und Vorträgen für Museen und Gedenkstätten, in der schulischen sowie historisch-politischen Erwachsenenbildung und für Games Studios tätig. (www.niconolden.de) Noch bis Ende 2024 leitet er am Sozialpädagogischen Fortbildungszentrum in Hamburg ein Projekt, das Fortbildungen für Fach- und Führungskräfte in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu Digitalisierung und Medienkompetenzen entwickelt.